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2. Kapitel: Kurzgeschichte
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"Ich bedarf der Nähe, doch die Nähe bedarf meiner nicht."
(aus: Lexa M. Makkoi, Das tiefe Tal, 2016)

Ich stand auf einer Lichtung. Soviel konnte ich sehen. Viel mehr nicht.
Sie war eingehüllt in Nebel. Die Feuchtigkeit des Nebels legte sich auf mein Gesicht und meine Hände. Es roch nach nassem Gras und nach etwas Süßlichem. Ich blickte umher. Überall Nebel.
Ich rieb mir die Augen und der Nebel begann zu verschwinden.
Als ob das Reiben der Augen sein Verschwinden befohlen hätte. Die Lichtung war umsäumt von Bäumen. Ich wusste nicht wo ich war und warum. Es gab keinen Anhaltspunkt. Es fehlte sogar eine Vorgeschichte. Nichts sagte mir, wie ich hier her gelangt war und was ich nun zu tun hatte.
Nach unbestimmter Zeit und ohne gedanklich an ein Ziel zu kommen, begann ich einfach gerade aus zu gehen. Ich überquerte die Lichtung. Der Nebel war gänzlich verschwunden, aber der Reif durchnässte meine Schuhe. In den Wald hinein. Dieser schien ganz normal. Ich konnte auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches feststellen. Dennoch war ich eingehüllt in ein Gefühl der Befremdung. Anders konnte ich dieses Gefühl nicht festmachen. Das Gefühl entglitt der Möglichkeit einer klaren Beschreibung. Es fühlte sich einfach sonderbar merkwürdig an.

Ich bewegte mich nach Süden. Zumindest vermutete ich das. Immer der Sonne entgegen. Sie war klein und spendete nicht besonders viel Licht. Obwohl es offensichtlich Tag war, war alles in ein mildes Zwielicht getaucht. Aber trotz der mangelhaften Lichtsituation schien es, als könnte man zwischen den Bäumen unendlich in die Ferne sehen. Bäume folgten auf Bäume folgten auf Bäume folgten auf Bäume. Doch ebenso so schien es einen unmittelbaren Horizont geben. Tatsächlich sah es so aus, als wäre die Sicht nach einigen Metern zu Ende, obwohl man gleichzeitig in die Ewigkeit blicken konnte. Und die Bäume wirkten zweidimensional. Wie Attrappen die flach in der Erde stecken. Und je weiter man blickte, desto mehr wurden die entfernteren Bilder zu einer einzigen Fläche. Wie eine Leinwand, die sich überall als Horizont aufgespannt hatte. Doch mit jedem Schritt wurden zweidimensionale Objekte dreidimensional. Ich konnte mich also durchaus fortbewegen. Ich konnte die Objekte passieren.

Ich weiß nicht wie lange ich gegangen war. Aber irgendwann stand ich an. Vor mir tat sich ein tiefer Abgrund auf. Eine felserne Schlucht, die meinen Weg abrupt zum Stillstand brachte. Ich überblickte die Landschaft vor mir. Der Wald war nun in die Tiefe gefallen. Er mutete noch immer ohne Ende an, allerdings konnte ich über ihn blicken. Aber das mangelnde Licht, die mangelnde Klarheit des zwielichtigen Tages machten es schwer klare Bilder zu erkennen. Ich rieb mir erneut die Augen. War da in der fernen Ferne tatsächlich noch etwas anderes als Wald? Ich glaubte Rauch zu erkennen. Säulen von Grau erhoben sich in die Höhe und weich vom Hintergrund ab. Und je genauer ich hinsah, desto mehr wurden es. Es waren zwar nicht unzählige, aber sie waren dennoch unmöglich zu zählen. Jedes Mal wenn ich auf dich eine fokussierte, lösten sich die anderen weich im Hintergrund auf. Und sie schienen auch nicht wirklich zu aufzusteigen. Vielmehr zitterten sie bloß leicht und täuschten so eine vertikale Bewegung vor. Was mochten diese Rauchsäulen bloß bedeuten? Wo gehörten sie dazu? War hier etwas im Argen?
Ich ging weiter nach Osten. Doch es war kein richtiger Osten, denn die Sonne stand erneut vor mir in der Mitte des Blicks nach vorne oben.

Immer mehr wurden mir die Merkwürdigkeiten dieser Welt bewusst. Mehr und mehr fand ich Begriffe, Möglichkeiten, diese Merkwürdigkeiten für mich zu benennen, wenn auch manchmal noch sehr abstrakt. Es wirkte alles ein wenig verschoben und härter. Die Kontraste waren schärfer und die Dinge hoben sich klar voneinander ab. Die Farben waren sehr klar und die Oberflächen hatten kaum Unregelmäßigkeiten. Und mir fiel auf: Es waren keine Geräusche vorhanden. Es gab nur die Geräusche, die ich selbst verursachte. Meine Schritte machten das Gras und die Erde hörbar, doch von selbst gaben sie keinen Laut von sich. Auch mein Schnaufen war klar und deutlich zu hören. Alles andere jedoch blieb still. Keine Geräusche der Äste, des Windes, kein Knacksen, kein Rascheln. Warum ich das jetzt erst bemerkt hatte, war unklar.
Das andauernde Zwielicht machte mich müde. Ich musste mir immer wieder die Augen reiben, um die klare Sicht zu behalten.

Plötzlich hörte ich ein Rascheln. Und es kam nicht von mir.
Es war vor mir. Vielleicht zwanzig Meter. Ein Gesicht. In den Büschen.
Ich rieb mir die Augen.
Ein Reh?!
Und ein dazugehöriger Körper, der nicht passte.
Ich blieb stehen. Ich wartete. Nichts passierte.
„Hey!“
Der Rehmensch hob den Arm. Wie zum Gruß.
„Wer bist du?“
Der Rehmensch kam auf mich zu. Schritt für Schritt wurde seine Gestalt besser erkennbar. Er hatte tatsächlich einen menschlichen Körper auf dem ein Rehkopf saß. Sein Gehörn wirkte so, als könnte man sich damit gut verteidigen.
„Hey!“
„Hey…“
„Bist du neu hier?“ fragte mich das Reh. Es sprach in einer zarten, ruhigen Stimme.
„Ja. ...Wobei, ich weiß nicht genau wo ich bin,“ antwortete ich. „Kannst du mir helfen? Kannst du mir sagen wo ich hier bin?“
„Nein. Tut mir leid. Ich weiß es selbst nicht mehr,“ erwiderte es nachdenklich. „Ich wusste es einmal, aber ich habe es leider vergessen.“ Das Reh blickte um sich, als müsste es sich vergewissern, wo es sich gerade befand. Es schien ungewohnt für das Reh, mit jemandem zu sprechen. Es war nicht nervös, aber es wirkte auf eine gewisse Art und Weise betreten. Dann sprach es weiter: „Ich bin schon lange hier. Aber wie lange kann ich leider nicht sagen. Aber ich weiß, dass es schon lange ist. Ich merke es, wenn ich Sachen anfasse, wenn ich versuche mich zu orientieren oder wenn ich etwas suche. Es fühlt sich alles sehr gewohnt an. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Kurzes Schweigen. Das Reh trug einen himmelblauen Jogginganzug mit telemagenta-farbenen Streifen an der Seite. Schuhe trug es keine. Seine Menschen-Füße waren schmutzig.
„Und? Wer bist du?“ wiederholte ich meine Frage von vorhin.
„Ich weiß auch das nicht. Ich habe alles verloren. Ich habe alles abgeworfen. Als wäre es Ballast“, antwortete es und zuckte dabei mit den Schultern. Das Nylon seines Jogginganzugs raschelte dabei.
„Aber kannst du mir dann vielleicht sagen, was diese Rauchsäulen da am Horizont bedeuten?“ Ich zeigte mit der Hand in Richtung Süden. „Ich hab‘ ein sonderbares Gefühl, wenn ich sie sehe. Als würde mir etwas auf der Zunge liegen. Als sollte ich wissen, was das bedeutet. Als wüsste ich eigentlich, was dort passiert.“
„Nein. Tut mir leid. Da kann ich dir ebenso nicht weiterhelfen mein Freund. Aber ab und an riecht es verbrannt. Vielleicht kommt der Geruch von dort. Aber ich weiß es nicht. Ich kann dazu leider keine klaren Angaben machen.“
„Hast du schon einmal versucht, dorthin zu gelangen?“ frage ich es.
„Ich glaube nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich glaube, ich warte lieber.“
Plötzlich hob es seinen Kopf. Seine Ohren stellten sich spitz in die Höhe.
„Da ist etwas.“
Es nahm seine Hände aus den Taschen der Joggingjacke. Die anfängliche Ruhe war ihm jäh aus dem Körper gewichen. Alles an ihm schien angespannt, verdichtet. Seine Nüstern vergrößerten sich.
Stille. Ich hörte nichts.
„Ich höre nichts,“ gab ich zurück. Ich wurde unruhig. Seine Anspannung machte mich unruhig. Die Stille, die uns umgab, machte mich unruhig.
Dann hörte ich auch etwas. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, wo das Geräusch herkam. Im Schatten einer Erle bewegte sich etwas.
„Hey!“ rief ich. Mehr aus Angst, denn aus Mut.
„Schsch!“ machte das Reh.
„Hallo ihr“, kam es aus dem Schatten.

„Hey, alles klar ihr beiden?“ Der Typ aus dem Schatten musterte uns. Er trug eine Bluejeans und einen dunkelblauen Ripp-Pulli mit Stehkragen und Reißverschluss. Der Reißverschluss war bis zum Solarplexus heruntergezogen. Darunter war ein weißer Polo-Kragen erkennbar. Seine Halbschuhe glänzten übertrieben. Die Uhr an seinem Handgelenk schien ebenso unverhältnismäßig. Fliegeruhren sind abstoßend.
Das Reh stand da wie angemeißelt. Es sagte nichts. Seine Anspannung war noch immer spürbar.
„Ja, warum?“ antwortete ich zaghaft. Das Reh starrte den Typen mit leicht zugekniffenen Augen an.
„Nichts. Alles gut bei euch? Was macht ihr so?“
Die Nüstern des Rehs zitterten leicht. Es blickte kurz zu mir, dann wieder in seine Richtung.
Es kam mir alles reichlich absurd vor. Ich stammelte ein wenig.
„Nichts. Wir unterhalten uns bloß.“ antwortete ich. Ich wusste nicht so genau, wie ich reagieren sollte. Die Stimmung war sonderbar. Der Typ schien auf irgendeine Art und Weise grotesk, obwohl nichts augenscheinlich an ihm falsch war.
Das Reh blickte wieder zu mir und machte komische Augenbewegungen. Wollte es mir etwas mitteilen?
„Oh Mann“, sagte der Typ und seufzte, gefolgt von einem kurzen Lacher gen Himmel. „Ihr denkt, dass ich eine Figur bin oder? Kein Stress Leute. Alles cool. Ich bin Mark.“ Mark streckte die Hand aus.
Ich zögerte. Das Reh reagierte widerwillig. Also tat ich es ihm nach.
„Was macht ihr so? Seid ihr Studenten?“ fragte Mark mit einem schiefen Grinser und zog seine Hand zurück.
Was redet der?
„Oh Mann, ich bin gerade da hinten die Straße hoch, die große, ihr wisst schon… Überall Bullen! Es wird schlimmer, ich sag‘s euch. Mit jeder Saison wird es schlimmer“, sprach er weiter nachdem von uns nicht viel kam.
Ich hatte absolut keine Ahnung, was gerade vor sich ging.
„Aber gut, dass es noch Leute gibt, die noch gechilled einfach so irgendwo abhängen. Das ist eine Form von Widerstand, ich sag‘s euch!“
???
Das Reh antwortete: „Keine Ahnung wovon du sprichst.“
Mark wollte schon neu ansetzen, doch dann klingelte es. Mark nahm ein Handy aus seiner Hosentasche und blickte darauf. „Entschuldigt mich kurz.“ Er entfernte sich ein paar Schritte und drehte seinen Rücken zu uns, während er Unverständliches in sein Telefon murmelte. Immer wieder blickte er kurz zu uns, als wollte er sich vergewissern, ob wir noch da wären.

„Er ist eine Figur! Ich wusste es!“ zischte das Reh. „Ich hau jetzt ab.“
„Was?“ war die einzige Reaktion von mir.
„Ich bin weg. Das solltest du auch. Hier nimm meine Maske. Sie wird dir helfen, dass die Figur dich verliert.“ Das Reh nahm sein Rehgesicht ab. Darunter kam ein menschliches Gesicht zum Vorschein. Es ging alles zu schnell und meine Verwirrung war zu groß, als dass ich das Gesicht darunter gut zu erkennen vermochte. Es war sehr unspezifisch, ohne spezielle Merkmale, aber auf jeden Fall menschlich. Das Reh, das nun kein Reh mehr war, blickte mir zum ersten Mal direkt in die Augen. Seine Augen waren nussbraun mit leichten grünlichen Verfärbungen am Rand der Iris. Ich verhedderte mich kurz in ihrem Glanz.
„Hier.“ Das Reh, das nun kein Reh mehr war, drückte mir die Maske in die Hand. Sie wog schwer in meiner Hand und war tatsächlich fleischig. Wie ein echtes Rehgesicht.
„Wir sehen uns.“ Und schon war das Reh in den Büschen verschwunden.

„Hey!“ Mark stand plötzlich so dicht neben mir, dass ich erschrak. „Wo ist das Reh?“ Ich wurde nervös. Mark klang nicht mehr so komplizenhaft wie zuvor.
„Es musste plötzlich weg. Ich soll dir schöne Grüße ausrichten“, stammelte ich.
Mark runzelte die Stirn und blickte sich um.
„Hmm… Ok, dann zu dir. ..Wie heißt du? Was machst du hier?“
Ich zögerte. „Ich hab keine Ahnung wie ich hergekommen bin. Aber ich denke, ich sollte jetzt auch mal wieder aufbrechen.“
„Hey! So einfach geht das nicht. Ich habe noch ein paar Fragen an dich.“ Er fasste plötzlich meinen Oberarm.
Ich wusste, dass ich jetzt schnell sein musste.
„Tut mir leid, ich muss wirklich gehen“, antwortete ich hastig und spürte schon, dass sein Griff fester wurde, als ich mich gerade noch ohne große Probleme herausziehen konnte. Ich drehte mich um und ging in die erstbeste Richtung.
„Hey!“
Ich legte die Rehmaske an mein Gesicht. Es fühlte sich warm und feucht und sicher an. Ich blickte zurück.
„Hey, bleib stehen!“
Ich beeilte mich wegzukommen. Ich begann zu laufen.
Nachdem ich einige Zeit durch das Dickicht gelaufen war blieb ich stehen. Ich drehte mich um und blickte hastig umher. Mark war nicht zu sehen. Ich hörte auch nichts. Scheinbar hatte ich ihn erfolgreich abgehängt.
„Eine Figur...“ sagte ich zu mir selbst und schüttelte den Kopf. Ich setzte mich hin, um zu verschnaufen. Der Boden war weich. Weicher als ich gedacht hatte. Ich legte mich auf den Rücken und blickte in den Himmel.

Ich hatte wohl einige Zeit geschlafen. Die Sonne stand zwar noch immer auf ihrem Platz. Doch ich fühlte mich reichlich erholt und ausgeschlafen. Ich setzte mich auf und blickte um mich. Alles wie zuvor. Es schien sich nichts verändert zu haben. Ich kontrollierte, ob noch alles an mir dran war. Dann fiel mir plötzlich die Maske wieder ein. Ich trug sie noch immer. Sie lag auf meinem Gesicht, als wäre sie mein eigenes, als hätte sie sich verschmolzen mit meinem. Ich legte meine rechte Hand auf das neue Gesicht. Es fühlte sich an, wie ich mir vorstellte, dass ein echtes Rehgesicht sich anfühlen würde. Ich spürte die kurzen drahtigen Haare, die sich widerspenstig zurücklegten, als ich gegen den Strich über das Fell streifte. Die Nüstern waren weich wie kaum etwas anderes auf dieser Welt. Und sie bewegten sich, wenn ich atmete. Und das Verrückteste war: Ich konnte das alles spüren. Es war tatsächlich so, als wäre mir ein Rehgesicht gewachsen. Aber es fühlte sich nicht unangenehm an. Eigentlich gab es mir sogar ein Gefühl von Sicherheit.
Ich beschloss die Maske aufzubehalten.
Langsam merkte ich, dass ich Hunger hatte. So stark wie er war, dürfte ich schon länger hungrig gewesen sein. Vermutlich hatte ich durch die Aufregung vergessen darauf zu achten. Ich stand auf und schaute mich um. Die Sonne gab mir keine Orientierung. Aber ich konnte zu meiner Rechten die Rauchsäulen ausmachen. Das musste also Süden sein. Als ich mich hinzu drehte, stieg mir der Geruch von kalter Asche in die Nase. Der Rauch. Woher kam er. Was passierte dort. Ich hatte das Gefühl, dass ich eigentlich Antworten auf diese Fragen hatte. Ich kam nicht darauf. Doch es lag mir auf der Zunge.
Ich beschloss wieder gen Süden zu gehen.

Auf dem Weg hielt ich Ausschau nach Essbarem. Immer wieder fand ich Sträucher mit roten Beeren, die jedoch bitter schmeckten und meine Zunge pelzig austrockneten. Nach dem ersten Versuch vermied ich weitere zu essen. Etwas später entdeckte ich beim Vorbeigehen einen Baum, der nussähnliche Früchte trug. Die wiederum rochen allerdings nach Mandeln, als ich sie öffnete. Auch da witterte ich die Gefahr einer Vergiftung. Und die verschiedenen Pilzsorten, die immer wieder auftauchten, waren zwar schön anzusehen, aber kamen nicht in Frage. Enttäuscht rupfte ich Blätter von den Ästen über mir und stopfte sie mir in den Mund. Lustlos konnte ich so zwar meinen gröbsten Hunger stillen, glücklich machte es mich jedoch nicht. Ich schnaubte frustriert mit meinen neuen Nüstern.

Ich war schon lange unterwegs. Irgendwie fühlte es sich an wie mehrere Tage. Doch die Sonne war noch immer am selben Stand wie zuvor. Die Bäume glitten an mir vorbei wie Sekunden. Ab und an kam ich an irgendwelchen frohfarbigen Beeren vorbei, die ich jedoch lieber an mir vorbeiziehen ließ. Doch einmal hatte ich Glück und mein Blick fiel auf eine grüne Birne, die einsam an einem ausgemergelten Ast hing. Ich hielt mich jedoch zurück und beschloss nicht sofort über sie herzufallen. Sie schien zu wertvoll, als dass sie einen so unbedachten Verzehr gerechtfertigt hätte. Also verschwand sie in meiner Jackentasche.

Langsam begann sich die Umgebung zu verändern. Die Bäume wurden knorriger und wuchsen weniger dicht und hoch. Dafür wurde der Boden weich vom Moos und es machte Spaß auf ihm zu gehen. Zwischendurch durchbrachen immer wieder Felsformationen den Moosboden. Diese Inseln aus Granit, die immer wieder das Moos durchbrachen, hatten etwas beruhigendes und verlangsamten meinen Schritt. Alles wurde gemächlicher. Ich verfiel in eine Form von Abwesenheit, die nur noch Besonderheiten Zugang zu meiner Aufmerksamkeit gewährte. So stolperte ich beinahe vor Schreck, als die drei Kegel vor mir meinen Weg stoppten. Drei Kegel in der selben Größe. Ein blauer, ein roter, ein gelber. Sie standen aufrecht in einer Reihe mit jeweils circa zehn Zentimeter Abstand. Durchmesser der Grundfläche jeweils ungefähr fünf Zentimeter, Höhe vermutlich zehn bis zwölf, die Kante zur Grundfläche angenehm abgerundet. Die Spitzen aber schienen gefährlich. Die Kegel lagen schwer in der Hand und hatten eine angenehm weiche und kühle Oberfläche. Das Material machte den Eindruck von geschliffenem Marmor, doch die Farben waren offensichtlich nicht aufgetragen, sondern gehörten dem Material selbst an. Ich band meine Jacke zu einem Beutel zusammen und legte zwei der drei Kegel und die Birne hinein. Den dritten – den gelben – band ich mit einem Holzschaft, den ich aus einem Busch nahm, und einigen zähen langen Gräsern zu einem Speer zusammen. Mir saß noch immer der Gedanke an diese Figur im Nacken und es schien eine gute Idee sich zu bewaffnen. Außerdem gab mir der Schaft zusätzlich Halt bei meiner Wanderung.

Ich hatte eigentlich keine Ahnung wohin ich ging. Ich hatte keine besondere Motivation, keine speziellen Ambitionen, keine Pläne, keine Ideen. Ich trieb einfach in eine Richtung, wich allen möglichen Hindernissen aus und zwang dennoch der Landschaft meinen Weg auf. Doch ich selbst sah keine Notwendigkeiten mehr. Zulange war ich schon auf meinem Weg, so ich ein Ziel aus den Augen verloren hatte. Ich sah zwar immer wieder die Rauchsäulen vor mir, doch sie schienen nicht näher zu kommen. Sie wurden mir auf eine hinnehmende Art egal.

Der Fluss vor mir war reißend. Ganz in der Trance des Gehens hatte ich ihn erst bemerkt, als ich direkt vor ihm stand. Ich blickte flussaufwärts, dann flussabwärts. Ich sah keine unmittelbare Möglichkeit ihn zu überqueren. Ich dachte schon daran nach Osten abzubiegen, als mich eine Stimme anrief. Sie war rau und klang unbequem:
„Hey du da! Ja genau du!“
Ich blickte mich um, sah aber niemanden.
„Hier unten!“ kam es von unten.
Ich sah hinunter. Auf einem Stein saß eine große schwarze Kröte.
„Und? Willst du hinüber?“ bellte mich die Kröte an.
„Was ist das für ein Fluss?“ fragte ich.
„Das ist der Fluss Heraklit. Er erstreckt sich von einem Ende der Welt zum anderen. Und es gibt kaum Möglichkeiten, ihn zu überwinden. Aber zufälligerweise kenne ich eine. Gleich hier ums Eck. Also… Willst du nun hinüber?“
„Ja, ich möchte hinüber“, antwortete ich hastig.
„Gut. Ich kann helfen. Aber das kostet“, kam es schroff von der Kröte zurück. Ihre Haut glänzte trotz zaghaftem Sonnenlicht.
„Was verlangst du? Ich habe nicht viel.“
„Na was hast du denn?“ erwiderte sie.
Ich dachte nach. Die Kegel konnte ich nicht opfern, sie schienen mir zu wertvoll. Also entschied ich sie zu verheimlichen.
„Eine Birne.“
„Eine Birne...“ wiederholte die Kröte und lachte laut. „Das ist ja lächerlich.“
„Ich hab nicht mehr, das ich entbehren könnte. Ich bin mit nichts angekommen.“
„Kannst du lesen?“ fragte die Kröte.
„Ja, ich kann lesen.“ antwortete ich.
„Ok, ok… dann machen wir‘s so: Du gibst mir die Birne, deinen Speer und bist mir mit deiner ach so wundervollen Lesefähigkeit behilflich – und dann zeige ich dir einen sicheren Weg über den Fluss.“
Ich dachte nach. Die Birne könnte ich opfern, den Speer wollte ich jedoch behalten. Von den anderen zwei Kegeln wusste die Kröte glücklicherweise nichts.
„Aber mit dem Speer kannst du doch gar nichts anfangen“, antwortete ich. „Der ist doch viel zu groß für dich. Der würde doch nur hier auf der Erde herumliegen und darauf warten, gestohlen zu werden.“
„Hmm…“
„Du bekommst die Birne und ich helfe dir mit der Entzifferung von was auch immer. Aber der Speer bleibt bei mir.“
„Hm…“
„Wenn du mir nicht beim Überqueren des Flusses hilfst, nehme ich einen anderen Weg. Mir ist das Überqueren des Flusses nicht so wichtig. Ich weiß nicht wohin ich gehe. Insofern ist es mir auch egal, ob ich den Fluss überquere oder einfach abbiege. Und du kommst dann schlussendlich zu nichts.“ Das war ein Argument, dachte ich.
„Hmm...“ Die Kröte überlegte. „Gut. Gebongt. Machen wir‘s so.“
Die Kröte kletterte von ihrem Stein. Unter ihr kam eine gemeißelte Inschrift zum Vorschein. Ich reinigte sie von Grünspan und Moos, um sie gänzlich entziffern zu können. „Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει“ stand darunter.
„Und was steht da?“ fragte die Kröte ungeduldig.
„Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει“, antwortete ich.
„Willst du mich verarschen? Und was soll das bedeuten?“ bellte sie zurück.
„Das heißt: ‚Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.‘“
„Ah. Gut. Hmm…“ Die Kröte dachte kurz nach. „Na gut. Keine Ahnung, was mir das jetzt gebracht hat. Hmm… Na dann komm!“ und sie sprang mit großen Sprüngen flussaufwärts.
Ich sah noch einmal auf die Inschrift, doch die Buchstaben begannen zu verschwimmen, wurden unleserlich.
„Na komm schon!“ rief die Kröte ungeduldig und ich sprang ihr nach.

Nachdem ich den Fluss mit der Hilfe der Kröte überquert hatte, machte ich mich weiter Richtung Süden. Ich war zwar meine Birne losgeworden, doch ich hatte noch meinen Speer und die zwei zusätzlichen Kegel. Ich war relativ guter Dinge.
Nach längerem Gehen verfiel ich wieder in eine Art Wandertrance. Ich setzte Schritt vor Schritt und die Landschaft zog an mir vorbei. Die Landschaft, die Landschaft, die Landschaft. Ich dachte an nichts. Die vorbeiziehende Landschaft wechselte mehrmals, aber ich achtete nicht mehr darauf.
Irgendwann wurden meine Beine schwer und ich wurde langsamer. Mit der Müdigkeit kam auch meine Aufmerksamkeit zurück. Müde war es unmöglich in Trance zu gehen. Die Umgebung wurde mir wieder bewusster. Als ich in die Ferne blickte, fiel mir auf, dass die Rauchsäulen nicht mehr zu sehen waren. Ich versuchte es mit dem Reiben der Augen. Nichts. Sie waren fort. Ich war überrascht. Ich entschied mich dazu, einen kleinen Hügel in der Nähe zu besteigen, um eine bessere Sicht zu haben. Doch als ich oben angelangt war, war trotzdem kein Rauch zu sehen. Ich drehte mich um die eigene Achse. Vielleicht hatte ich ja die Richtung verloren... Nichts. Die Rauchsäulen waren wie vom Erdboden verschluckt. Der Horizont glich nun in jeder Himmelsrichtung dem der vorherigen. Ich setzte mich erschöpft auf einen Fels. Als ich irritiert und gedankenverloren über die Gegend blickte, sah ich einen See. Ostwärts, nicht weit von da wo ich war. Und an dem See lag eine kleine Lichtung. Und auf der Lichtung: Eine Feuerstelle? Konnte das sein?

Als ich am See angelangt war, war da tatsächlich eine Feuerstelle. Die Asche war schon lange kalt und nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand gewesen war. Um die Feuerstelle herum waren drei Sitzplätze aus vertrocknetem Gras vorbereitet. Und auf dem verbrannten Holz lag eine leere Glasflasche.
Ich näherte mich dem Wasser. Der See schien kein Ende zu nehmen und kippte in den Horizont. Ein wenig rechts von mir war eine Gruppe Enten am dümpeln. Es freute mich sie zu sehen. Endlich wieder Kontakt. Viel zu selten war ich bis jetzt auf jemanden getroffen.
Ich wusch mir mit dem kalten Wasser das Gesicht und trank davon. Dann sah ich zum ersten Mal mein Spiegelbild. Das Rehgesicht, das mich ansah, war ich. Daran war kein Zweifel und es fühlte sich normal an. Ich griff an meine Hörner. Unvorsichtig verletzte ich meinen Finger an einer der Spitzen. Er blutete leicht. Ich steckte ihn in den Mund. Nicht nötig, mich weiter darum zu kümmern, dachte ich, war mir aber dessen nicht so sicher.

Beim Erkunden der näheren Umgebung fand ich auf einer kleinen Anhöhe einen Lagerplatz. Es gab einen Schlafplatz aus trockenem Laub. Darüber und ringsherum waren die Äste zusammengebunden und boten so Schutz vor Einsicht und Wetter. Sonst war nicht viel vorhanden. Ein paar Schalen von Früchten lagen herum, angesammeltes Holz. Ich nahm etwas von dem Holz und ging zurück zur Feuerstelle. Ich blickte über den See. Die Sonne lag wie immer vor mir, doch näherte sie sich langsam dem Horizont an. Ich sammelte die Rinde von einer nahen Birke und machte ein Feuer. Ich setzte mich auf einen der vorbereiteten Sitzplätze und blickte auf das Wasser. Die Schatten wurden langsam länger und der Himmel bekam eine rötliche Farbe. Trotz des Feuers wurde es kühl und ich wickelte die Kegel aus meiner Jacke, um sie mir überzustreifen. Je weiter sich die Sonne dem Horizont annäherte, desto mehr verlagerte sich der Farbton des Himmels ins Violette. Bis sie verschwand und nurmehr der nun auftauchende Mond etwas Licht gab und die Umgebung in dunkelblauen bis schwarzen Silhouetten abzeichnete.
Ich saß da so für vermutlich mehrere Stunden. Irgendwann wurde ich müde. Ich ging zurück zum Lager auf der kleinen Anhöhe und legte mich auf das Laub. Den Speer legte ich neben mich. Es war still. Ich schlief sofort ein und träumte von nichts.